"Neuroscience research shows that the only way we can change the way we feel is by becoming aware of our inner experience and learning to befriend what is going on inside ourselves." *
Bessel van der Kolk
Meine Mutter hat es gehasst, wenn sie wegen irgendeiner Angelegenheit in die Schule musste. Da ich erst mit 13-14 in Deutschland zur Schule ging, regelte ich vieles schon selbst. Sie sagte immer: ”Ich komme mir vor, als ob ich wieder ein Schulkind wäre!”. Sie selbst hatte Jahre lang eine Lehrerin, die wohl keine Gelegenheit ausließ, die Klasse zu demütigen, anzuschreien und zu bestrafen. Die Kinder waren dieser Frau völlig ausgeliefert. Viele Jahre später kam heraus, dass besagte Lehrerin überhaupt keine Lehrerin war. Diese Frau hatte ihren Beruf nie erlernt. In Ermangelung an ausgebildeten Lehrern, war das in den Kriegsjahren und danach vermutlich kein Einzelfall. Aber selbst als erwachsene Frau, steckten meiner Mutter diese traumatisierenden Jahre noch in den Knochen und ihr Nervensystem schlug jedes Mal Alarm, wenn sie in einem Klassenzimmer einem Lehrer gegenüber saß.
Wir wissen alle, dass ein schwerer Autounfall ein traumatisches Erlebnis ist. Weniger bekannt ist, dass viele von uns ein sog. Entwicklungstrauma erlebt haben, d.h. im Laufe unserer Entwicklung sind wir immer wieder, über Wochen, Monate oder Jahre, ein und derselben Situation ausgeliefert gewesen. Wir waren nicht in der Lage uns zu wehren, unsere Grenzen zu ziehen oder die Situation zu (ver)meiden.
Da die Natur uns mit Anpassungsmechanismen ausgestattet hat, findet unser System (Nervensystem & Gehirn) früher oder später einen Weg, um mit derartigen Übergriffen umgehen zu können. Das ursprünglich Stress auslösende Empfinden bekommt eine Alternativlösung und lässt sich damit beruhigen. Eine Lösung für das Problem scheint gefunden z.B. wenn ich mich ganz ruhig verhalte, dann schreit mich keiner an. Und, ja, für genau diese Situation war das damals (!) die beste Idee, die wir haben konnten.
Im Falle meiner Mutter, war es, die Lehrerin als Autorität auf keinen Fall infrage zu stellen, niemals direkt zu provozieren und vorausschauend alles zu vermeiden, um ihrer sadistischen Handlungen keine Angriffsfläche zu bieten.
Leider verhält es sich so, dass unser System kein Zeitgefühl hat. D.h. jedes Mal, wenn die Möglichkeit besteht, angeschrien werden zu können, kommt unsere Lösungsstrategie zum Einsatz.
Auch Jahre später, steht uns noch immer wenig zur Verfügung, um uns vor aggressiven Übergriffen zu schützen. Unser System schützt uns vor dem “alt bekannten”, noch bevor uns die Situation überhaupt klar ist. Unser Nervensystem ist schlicht schneller, als unser Neokortex. Das Problem ist, dass wir uns dieser “Ersatz”-Lösung, als EINE ”Strategie” von mehreren, nicht bewusst sind. Es kommt uns überhaupt nicht in den Sinn, dass wir durchaus auch eine Wahl hätten. Unsere Re-Aktion empfinden wir zwischenzeitlich als normal.
Doch zwischen “normal” und “natürlich” können Welten liegen.
Noch heute versucht meine Mutter alles, um Streit oder lauten Auseinandersetzungen zu vermeiden. Bevor es dazu kommt, verlässt sie den Raum und geht.
Das Enneagramm kann uns dienliche Hinweise geben, was uns persönlich zwar “normal” erscheint, aber in der einen oder anderen Situation alles andere als “natürlich” ist. Jeder der neun Punkte gibt Auskunft, wie wir bestimmten Themen in unserem Alltag begegnen und welche bevorzugte Strategie wir anwenden.
Wenn z.B. nach erfolgreichem Abschluss eines Projekts, es darum geht den Erfolg zu feiern, so wird ein Bär (Punkt 9) sich nicht ins Rampenlicht stellen, obwohl er vielleicht maßgeblich zum Erfolg beigetragen hat. Ganz im Gegensatz zum Adler (Punkt 3), er wird es genießen. Die Biene (Punkt 1) wird höchstwahrscheinlich zufrieden damit sein, es pünktlich geschafft zu haben, wird jedoch alle Stellen im Kopf haben, wo etwas hätte besser laufen können. Der Schmetterling (Punkt 7) wird sich freuen, wie gut alles geklappt hat und bereits Ideen im Kopf haben, was man sonst noch alles zusammen realisieren könnte. Die Maus (Punkt 6) wird erleichtert sein, dass alles, was hätte schiefgehen können, nicht eingetroffen ist u.s.w.
Das Enneagramm ist keine Therapieform. Ich behaupte nicht, dass das Enneagramm ein Modell zur Traumabewältigung ist. Es ist aber definitiv ein System, das, wenn man sich tiefer damit befasst, aufzeigt, welche Facetten unserer Verhaltensmuster im blinden Fleck-Winkel liegen. Was uns selbst als “normal” erscheint, aber vielleicht keineswegs “natürlich” ist und wo wir uns in unserem Entwicklungsprozess oft selbst im Weg stehen.
Unser Körper schickt permanent Signale an unser Gehirn, würde er das nicht tun, würden wir nicht überleben. Wir würden erfrieren, verhungern oder irgendwie anders ums Leben kommen. Gleichzeitig verstehen wir viele seiner Hinweise nicht, verstehen sie falsch oder übergehen sie. Wir haben verlernt, ein gutes Gehör für die Anliegen unseres Körpers zu haben. Es lohnt sich, die Stimme unseres Körpers zu hören und seine Sprache zu verstehen.
Zum Wohle unserer Gesundheit und unserer Lebensfreude!
Bessel van der Kolk widmet seine Arbeit der Frage, wie sich Kinder und Erwachsene an traumatische Erlebnisse anpassen. Er ist der Autor des Buches "The body keeps the score" https://www.besselvanderkolk.com
* freie Übersetzung: Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass wir unsere Gefühle nur ändern können, wenn wir uns unserer inneren Erfahrungen bewusst werden und lernen, uns mit dem anzufreunden, was in uns selbst vorgeht.
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